Mich haben Geschichten anderer Menschen schon immer interessiert. Die echten Geschichten von Angesicht zu Angesicht erzählt. Ich will wissen, wie es den Menschen geht, was sie gerade fühlen, was sie denken. Welche Ängste sie haben, aber auch, welche Hoffnungen sie antreiben. So ist meine Idee zu „Momentaufnahme“ entstanden und seit dem Skype ich mit den verschiedensten Menschen.
Momentaufnahme
Wie sehr ich meine Momentaufnahme liebe ist mir in meiner Sommerpause aufgefallen. Es hat mir gefehlt, mich virtuell mit neuen Frauen zu treffen und zu hören, was sie zu erzählen haben. Neue Geschichten hören, in das Leben einer anderen einzutauchen. Meine heutige Gesprächspartnerin hatte sich im März bei mir gemeldet und als ich nun nachgefragt habe, ob sie noch Interesse hätte, sagte sie, dass sie sich nicht mehr sicher sei. Sie glaube nicht, dass sie so viel Interessantes zu erzählen habe wie die tollen Frauen der letzten Momentaufnahmen.
Ihre Entscheidung habe ich respektiert, ihr aber dennoch geschrieben, dass ich davon überzeugt bin, dass JEDER eine Geschichte zu erzählen hat. Weniger Stunden später hat sie dann doch zugesagt und was soll ich sagen? Es war ein wunderbares Gespräch!
Diese Gespräche bedeuten mir sehr viel. Ich bekomme einen Einblick in ein Leben, dass ich sonst nie kennengelernt hätte. Es sind einfach immer so wunderbare Frauen und es werden auch oft Sachen erzählt, die später nicht im Text veröffentlicht werden. Meine Interviewpartnerinnen haben oft das Gefühl, dass sie mit einer „alten Freundin“ sprechen, weil sie mich – teilweise schon seit Jahren – über Instagram kennen. Dieses Vertrauen, das mir in meiner Momentaufnahme entgegengebracht wird, erfüllt mich sehr.
Liebe Ulrike, wer Du bist und was machst Du?
Ich bin Ulrike, 58 Jahre alt, wohne in der Kleinstadt Germersheim am Rhein und bin die Leiterin des Kulturamtes der Stadt Germersheim. Meine Tochter ist 29 Jahre alt und seit 24 Jahren bin ich verwitwet. Meine Tochter war damals 5 Jahre alt, ich war 34. Von heute auf Morgen ist er verstorben.
Er ist morgens aufgestanden und ihm ging es nicht gut. Da hatte er auch schon kalten Schweiß am ganzen Körper. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich sofort den Notarzt gerufen und hätte sofort reagiert, denn kalter Schweiß hat meist mit dem Herzen zu tun.
Der Kleinen habe ich gesagt, sie solle sich fertig machen. Während ich um kurz vor 8 mit dem Hausarzt telefoniert habe, ist er dann verstorben. Für mich war die Tatsache, dass ich meiner Tochter habe sagen müssen, dass ihr Papa gestorben ist an diesem Tag schlimmer, als die Tatsache, dass er gestorben ist.
Der Todesfall hat Dich und Deine Tochter sicher eng zusammengeschweißt?
Wir haben ein ganz besonders Verhältnis eher so was wie die „große Schwester“ oder die „ältere Freundin“. Meine Tochter ist auch Mutter, meine Enkeltochter ist 4. Leider lebt meine Tochter in Scheidung, hat aber einen ganz tollen neuen Lebensgefährten gefunden. Für mich ist es eine Erleichterung zu wissen, dass mein Kind „gut untergebracht“ ist. Ich bin beruhigt und weiß, ihr geht es gut. Die Eltern ihres Lebensgefährten nehmen meine Enkeltochter auf, als sei sie das eigene Enkelkind und das ist für mich ein gutes Gefühl.
Auf der anderen Seite tut es mir manchmal weh, weil ich meinem Enkelkind nicht so eine Familie geben kann. Ich bin nun mal alleine.
Nach dem Tod meines Mannes lebte ich mit meiner Tochter 6 Jahre alleine, hab dann einen Mann kennengelernt und war fast 7 Jahre lang mit einem Narzissten zusammen. Das war fast tödlich für mich und auch meine Tochter hat sehr darunter gelitten. Es hat gedauert, bis ich die Kraft hatte, mich von ihm zu trennen. Doch dann hat mir der liebe Gott eine Brücke geschickt. Er hat mir einen anderen Menschen geschickt, der mich da rausgeholt hat. Leider ist er mittlerweile auch schon verstorben … ich habe, was Beziehungen betrifft, nicht so viel Glück gehabt.
Die „Brücke“ hat mir gutgetan, denn so konnte ich aus dem Narzisstischen Umfeld ausbrechen. Leider habe ich mit dem neuen Lebensgefährten eine weitere schlechte Erfahrung gemacht, er hat mich betrogen. Da ist für mich nochmal eine Welt zusammen gebrochen. Diesen Schmerz, diese Erfahrung wünsche ich niemanden.
Nicht desto trotz muss ich sagen, dass ich trotzdem etwas Positives für mich mitnehme: ich wäre nie so selbständig geworden, wenn ich in diesem Alltag „Verheiratet und Ehefrau sein“ geblieben wäre, hätte ich mich nie so entwickelt. Ich stehe mit beiden Füßen auf dem Boden und lebe mein Leben.
Natürlich habe ich auch Sehnsüchte, gerade wenn ich tolle Veranstaltungen gehabt habe. Wenn die Menschen von einem Konzert, Kabarett oder einem Theaterstück nach Hause gehen und mir sagen, wie toll es war – das ist mir mehr wert, als wenn mein Chef mich lobt. Mein Chef lobt mich, weil er Chef ist, doch die Besucher machen es aus dem Herzen heraus. Wenn ich dann nach einer tollen Veranstaltung nach Hause komme und keiner ist da, mit dem ich es teilen kann, das fehlt mir schon.
Du liebst Deinen Job?
Es ist so ein toller Beruf, wirklich. Ich komme mit so vielen Menschen zusammen und sehe auch die Dankbarkeit. Wir haben 22.000 Einwohner und ich habe 320 Abonnenten. Das sind meine Babys – die betreue ich auch gerne. Die persönliche Betreuung ist mir wichtig. Ich bin Ansprechpartnerin für Kritik – aber auch für dann, wenn es schön ist und das seit mittlerweile 9 Jahren im Kulturbereich und insgesamt seit 20 Jahren bei der Stadt.
Bei uns gibt es Kleinkunst, Kabarett, Theater und einmal im Jahr bieten wir ein Kulturfestival an – den „Germersheimer Kultursommer“ mit knapp 16 Veranstaltung in 6 Wochen. Ich habe keine Mitarbeiter, bin also alleine im Kulturamt. Das ist viel mit Freizeitentbehrung verbunden aber ich liebe meinen Job. Man erlebt einfach so viele tolle Sachen, auch mit den Künstlern.
Durch den Lockdown wurde natürlich alles abgesagt. Alle Künstler wurden auf das kommende Jahr vertröstet. Da hängt so viel hinten dran, so viele Menschen, die schauen müssen, wie sie es bis zum Monatsende schaffen.
Aber jetzt lockert sich das ganze wieder?
Ja, und ich freue mich total, dass ich am Sonntag wieder eine Veranstaltung machen darf. Da freue ich mich total. Wir haben noch viele Künstler, deren Verträge bis Ende des Jahres gehen. Da kam mir eine Idee: In Rheinland-Pfalz dürfen wir im Außenbereich bis zu 350 Menschen versammeln. Ich brauchte aber einen Plan B, für den Fall, dass das Wetter nicht mitspielt. Wir haben bei unserer Stadthalle ein Stadtgarten-Restaurant mit angeschlossen, dort dürfen laut Verordnung und Größe der Lokalität 70 Personen zusammen sitzen. Also los, das probieren wir einfach mal und jetzt haben wir ein Terrassenkonzert für 70 Personen geplant.
Neues wagen
Eigentlich bin ich ein Angsthase und habe Angst vor Neuem. Aber ich fordere mich gerne selbst heraus. Schließlich haben wir nur dieses eine Leben! Meistens geht es auch gut. Das baut mich auf, zu sehen, was ich schon alles erreicht habe und ich mir selber sagen kann: „Stell Dein Licht nicht unter den Scheffel!“
Es gibt diesen Spruch: „Wenn eine Tür zu geht, dann geht immer auch eine andere Tür auf!“ Aber was macht man, wenn es keine Tür gibt? Dann guckt man, ob ein Fenster auf ist! Einfach mal die Blickrichtung ändern. Wir Frauen können oft so viel mehr, als wir uns selbst zutrauen!
Liebe Ulrike, herzlichen Dank für diese Momentaufnahme. Danke für Deinen Mut und Deine Power!
Und hoffentlich bis zum nächsten Jahr – wenn ich auf Momentaufnahme-Tour gehe … (die Idee kam mir in dieser Woche. Alle Frauen besuchen und ein Jahr später gucken, wie es ihnen geht und die Geschichten in ein Buch verpacken … große Vorfreude auf diese Umsetzung!)
Alles Liebe
Denise
Liebe Denise, liebe Ulrike,
die heutige Momentaufnahme, ich möchte eher von „Lebensaufnahme“ sprechen, geht mir sehr nah.
Was für ein Schicksalsschlag, wenn man plötzlich und unerwartet den geliebten Partner durch den Tod verliert.
Und dann noch in jungen Jahren. Ich bewundere Ulrike dafür, dass sie ihr Leben fortan so gut gemeistert hat und
sie kann zu Recht stolz darauf sein!
Ich hoffe, dass Du diese Reihe weiter fortsetzt und freue mich schon auf weitere wunderbare Beiträge, Martina
Vielen Dank Martina! Wir können alle auf uns stolz sein. Jeder hat etwas dass er gut kann und das darf man ruhig zeigen. Klar, gibt es auch Tage in meinem Leben an denen ich am Verzweifeln bin. Ich hätte gerne etwas Verantwortung abgegeben, gerade als meine Tochter noch so klein gewesen ist. Aber ich habe es so gut es ging gemanagt und soll ich sagen, was mir am Meisten geholfen hat? Ich habe nicht so oft auf die Ratschläge der Anderen gehört sondern so entschieden wie es sich für mich und mein Kind gut angefühlt hat.
Alles Liebe!
Ulrike
Eine wirklich berührende, aber auch Mut machende Momentaufnahme. Schön zu sehen, dass es auch weitergeht, wenn das Schicksal einem manchmal eine schlechte Karte zeigt. Hut ab vor Ulrike – sie strahlt so schön.
PS.: ich fände eine Momentaufnahme von (deinen) Kindern auch interessant. Wie sehen junge Leute das mit der wieder begonnen Schulzeit und der Alltag generell unter den Corona-Umständen. Bestimmt auch ein interessanter Einblick von der Seite.
Das mit den Momentaufnahmen-Besuchen ist eine großartige Idee.
Das ist eine schöne Idee, liebe Kathrin.
Allerdings bin ich dazu übergegangen, meine Kinder hier möglichst raus zu halten. Deshalb auch keine Einblicke mehr ins „Kinderzimmer“.
Aber ich kann Dir verraten, dass meine jüngste Tochter am liebster weiterhin zu Hause geblieben wäre 😉
Dankeschön Kathrin! Auch für dich alles Liebe!
Danke für so viel Ehrlichkeit, und das Teilen deiner Geschichte, Ulrike! Man kann sich glaube ich gar nicht vorstellen, wie es ist einen Partner zu verlieren. Und das schon so früh. Du machst Mut und Hoffnung. Deine Geschichte ist viel mehr als eine Momentaufnahme sondern zeigt mir wie das Leben ist, und auch man das Beste machen kann. Wünsche Dir viel Erfolg für das kommende Jahr und vor allem für dieses Jahr!
Wie Denise schon geschrieben hat, hat es mich doch etwas Überwindung gekostet meine Geschichte zu erzählen. Aber sie hat es mir so leicht gemacht und ich bin ihr sehr dankbar dafür. Nein, das kann man sich wirklich nicht vorstellen aber es läuft im ersten Jahr alles wie im Film. Erst nach einem Jahr erlebt man den Alltag bewusster. Und, was soll ich sagen? Ich bin an den Herausforderungen gewachsen … es bleibt weiterhin spannend … Alles Liebe auch für dich!
Ulrike
Liebe Ulrike, liebe Denise,
deine Geschichte hat mich ganz tief berührt. Es ist sehr beeindruckend und auch bewundernstwert, wie du dein Leben immer wieder in die Hand genommen hast. Da gehört sehr viel Stärke dazu. Es tut mir leid für dich, dass da auch leider nicht so schöne Beziehungen dabei waren. Aber du hast es geschafft! Und du gibst deiner Enkelin etwas, dass besonders ist: Du zeigst, wie man mit Stärke und Willen sehr viel bewältigen kann und dabei Freude behält und auch Demut empfindet.
Das ist sehr besonders. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute und dass immer ein Fenster oder eine Tür für dich offen sind.
Liebe Grüße
Nicole