Momentaufnahme aus Amerika
Mich haben Geschichten anderer Menschen schon immer interessiert. Die echten Geschichten von Angesicht zu Angesicht erzählt. Ich will wissen, wie es den Menschen geht, was sie gerade fühlen. Welche Ängste sie haben, aber auch, welche Hoffnungen sie antreiben. So ist meine Idee zu „Momentaufnahme“entstanden und seit dem Skype ich mit den verschiedensten Menschen.
Annika ist Deutsche und lebt mit ihrem Mann und ihrem 5-jährigen Sohn in Amerika. Vor fast 11 Jahren sind Annika und ihr Mann nach Portland Oregon gezogen, eine mittelgroße Stadt die durch viele Headquarters von großen Firmen wie Nike, Patagonia, Intel oder Airbnb Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt anzieht. Auch wenn es nicht New York oder Los Angeles ist, hat es eine sehr große Creative Scene und ist eine wahre Foodie Town. Portland liegt 2 ½ Autostunden von Seattle entfernt und 1 ½ Stunden von der atemberaubenden Oregon Coast, auch die People’s Coast genannt.
Liebe Annika,
wie bist Du vor 11 Jahren nach Amerika gekommen?
Mein Mann arbeitet in der Tech – Industrie und ist schon vor unserem Umzug oft hier hingeflogen. Irgendwann haben wir das Angebot von seiner Firma bekommen, nach Oregon zuziehen, erstmal für ein Jahr. Wir hatten vorher schon darüber gesprochen, mal in einem anderen Land zu leben. Man könnte auch sagen, mich hat die Vorstellung mal für eine Zeit lang woanders zu leben, immer schon gereizt. Meine Eltern sind auch viel gereist – vielleicht habe ich das Reisefieber von Ihnen geerbt.
Wir haben dann zugesagt , unsere Hochzeit vorgezogen und uns in den Visa Prozess gestürzt. Ein halbes Jahr später ging es dann in die Staaten – ohne je diese Stadt oder das Land gesehen zu haben. Wenn Abenteuer dann richtig.
Die Natur hier, die Nähe zum Wasser, die Weingebiete, Mt. Hood unser Berg direkt vor der Tür und die kreative Szene machen es einem sehr leicht, die Stadt zu lieben.
Wir haben dann das Angebot bekommen zu verlängern, was wir nach kurzer Überlegung angenommen haben und sind noch mal durch einen anderen Visa Prozess gegangen – welches immer mit Nervenkitzel zu tun hat, ob es klappt oder nicht.
Unsere Kinder
2013 bin ich mit unserem ersten Sohn Maarten schwanger geworden. Wir waren gerade im Greencard Prozess als wir herausgefunden haben, dass unser Sohn eine sehr seltene Herzkrankheit und das Dandy-Walker-Syndrom hat. Da ich dadurch eine Hoch-Risikoschwangerschaft hatte, durfte ich nicht fliegen und nach der Geburt waren wir lange im Krankenhaus, wo unser Sohn dann einige Wochen nach langem Kampf verstorben ist. Heute sagen wir immer “unterbewusst sind damals die Würfel gefallen, das wir länger bleiben” – wir haben unseren Sohn damals versprochen, wir nehmen ihn immer mit auf unseren Reisen, wir werden einen Platz finden wo wir immer zusammen sind und werden das Leben, Tag für Tag leben. Wir haben die Asche unseres Sohnes damals mit Hilfe vom Krankenhaus auf dem Ozean verstreut und haben so eine sehr intensive Verbindung zu Portland und dem Wasser – die auch nie gerissen wird.
2 Jahre später bin ich wieder schwanger geworden und auch wenn ich eine Risikoschwangerschaft hatte und kämpfen musste um eine natürliche Geburt ist Julius unser zweiter Sohn jetzt auf der Welt und ist das beste, was uns passieren konnte.
Wie sieht Euer Alltag gerade aus?
Gerade heute ist so ein Tag wo ich denke, ich bin so verdammt müde. Ich könnte gerne noch mehr Hände haben oder würde mich gerne klonen lassen. Unser Alltag ist jeden Tag ein neues Abenteuer und liegt auch sehr am Mood, Gemütslage unseres Sohnes. Unsere Kitas sind zu und wir sind nur ein paar Wochen vor dem großen Summer Break, also haben wir uns total darauf eingestellt bis September zu Hause zu bleiben (bis unser Sohn zur Grundschule wechselt, sie fangen ein Jahr früher mit Grundschule an als in Deutschland).
Durch die Schließung der Kitas, dass wir social distancing haben – und mein Mann sehr viel arbeitet – übernehme ich Kind und Hund, plus meine Arbeit und den Haushalt. Also die ersten Wochen haben wir auch alles gemacht und sind auf jeden Aktivitäts Zug gesprungen und haben jedes Lernblatt gemacht. Nach 9 Wochen und wo wir mehr Richtung Sommer gehen, machen wir einmal die Woche das science experiment in der Schule mit und ansonsten ist es am einfachsten, morgens mister netflix babysitter laufen zu lassen für eine Stunde, sodass ich E Mails schreiben und Mittagessen vorbereiten kann. Dann schmeisse ich Schuhe, Wechselklamotten und Snacks in den Wagen, schreibe ein paar Mütter an, welche Parks gerade offen sind und wo andere Mütter mit ihren Kids wandern oder im Matsch waren und da fahren wir dann hin.
Am meisten vermisse – neben meinen Freunden – meine me time. Einfach alleine durch den Park, in einem coffee shop sitzen, einfach für mich sein.
Hast Du Frauen, mit denen Du Dich austauschen kannst?
Oh ja, der intensive Austausch, ohne sich verstellen zu müssen ist eins der Dinge, ich am meisten schätzen gelernt habe. Der nahe Kontakt zur Familie und zu Freunden.
Meine beste Freundin und ich schicken uns fast jeden Tag Sprachnachrichten und Telefonieren per Video Call und ich Facetime mit anderen Freundinnen. Ich habe hier in Amerika schon vor Covid immer einen engen Kreis an Müttern gehabt, mit denen kommuniziere ich mindestens jeden zweiten Tag. Wir tauschen aus, welche Sachen die Kids am längsten beschäftigt halten, manchmal dreht sich ein Gespräch nur um das Etikett einer Weinflasche und wenn wir im Konferenzgespräch sind, kriege ich die Lacher, wenn ich meine super Kombucha Flasche raushole, da ich keinen Alkohol trinke. Wobei Covid mich das ein oder andere Mal fast verführt hätte, auch dem Wein zu verfallen.
Ich habe creative Freunde mit und ohne Kids, die mir helfen, inspiriert zu bleiben. Ich merke, wie wichtig mir der Austausch ist, jetzt, wo ich nicht in eine Café gehen kann zum schreiben oder um Freunde treffen kann.
Was machst Du beruflich?
Vieles. Und ich habe auch schon vieles gemacht.
Ich habe immer etwas mit Food gemacht. Ausbildung im Bioladen zur Abteilungsleiterin, ich habe auf einer Farm gelebt, mich immer weiter fortgebildet im Bereich Ernährung, ein Studium zum Ernährungscoach. Hier in den Staaten durfte ich Anfangs nicht arbeiten und in der Zeit den Garten eines Hostels aufgehübscht, habe dann in einer Bäckereie gearbeitet, bis ich auch in Oregon als Ernährungscoach arbeiten durfte.
Durch den Tod unseres Sohnes habe ich dann vor 6 Jahren einen Neustart hingelegt. Ich habe als Fotografin angefangen und mich darauf spezialisiert, Frauen zu fotografieren, die ein Unternehmen haben, meistens in der Foodszene.
Der Traum vom Buch
Ich wollte schon immer ein Buch darüber machen, dass jede Frau eine eigene Stimme und Geschichte hat. Es sollte dokumentarisch die AUF und ABS zeigen, ein bisschen ungeschönt, um auch die Connection zwischen Europa und Amerika zu zeigen. Die Interviews hier finde ich teilweise zu geschönt und ich wollte gerne zeigen, dass Du nicht unbedingt 26 tausend Follower haben musst, um Erfolg zu haben. Es ist ok, wenn Du an der Kasse sitzt und den Menschen ein Lächeln entgegenbringt, wenn sie einen miesen Tag hatten. Oder wenn Du eine Scheidung hattest und bei NULL anfangen musst.
Wir leben jetzt seit 11 Jahren hier, ich habe zwei Kinder zur Welt gebracht und wir hatten durchaus schwere Zeiten, dadurch, dass unser Sohn verstorben ist. So eine Erfahrung verändert und jeder geht damit anders um, aber ich glaube einfach, dass jeder seinen Weg findet, um weiter zu machen– und trotzdem haben wir unsere Wurzeln irgendwo anders. Ich wollte etwas produzieren, was ich auch mitnehmen kann, wenn wir vielleicht in ein paar Jahren in Europa nochmal neu durchstarten wollen.
Vor zwei Jahren habe ich dann 16 Frauen interviewt und daraus ein Kunstprojekt gemacht. Die Frauen wollten wissen, wo sie es kaufen können, dabei war es nur ein Projekt. Also haben wir unser Erspartes reingesteckt, produziert und innerhalb von einer Woche war es ausverkauft.
Mein zweites Standbein ist Airbnb, wo ich gerade sitze was momentan eine Ausnahme ist da mein Mann es mehr in Beschlag hat. Normalerweise vermieten wir es das ganze Jahr, im Moment brauchen wir aber den Platz, da mein Mann hier arbeitet. Ab September öffnen wir es wieder.
Soulbase Magazin
Dann habe ich angefangen mich zu informieren, mit der Überlegung, ein Magazin raus zu bringen. Es gibt nicht so viele Printmagazine, die Frauen geführt sind oder die nach drei Exemplaren noch bestehen, ohne dass man sogenannte „Angel Investor“, also geheime Stillhaber hat.
Vor 1 1/2 Jahren habe ich Soulbase Magazin „gebrandet“, produziert und September 2019 ist die erste Ausgabe erschienen, die nach drei Monaten ausverkauft war. In diesem Monat kommt die nächste Ausgabe raus – mit der doppelten Menge. Die dritte Ausgabe wird von August bis Dezember produziert und Mai 2021 rauskommen.
Dein Mann ist im Homeoffice. Wie geht es Dir damit?
Ich würde lügen, wenn ich jetzt sagen, es ist die perfekte Lösung, auf lange Sicht. Aber im Moment geht es uns okay damit. Es hat für unsere Familie einen großen Vorteil, so viel Zeit zusammen haben wir lange nicht miteinander verbracht, da mein Mann sonst viel gereist ist.
Und wir sind auch dankbar, dass er das stabile Einkommen gerade mit nach Hause bringt. Dadurch das er im Airbnb arbeitet, haben wir genug Platz – ansonsten wäre es schwieriger da er auch Nachts conference calls hat. Es schlaucht uns im generellen und natürliche wird es zwischen drinnen mal laut, aber nach zwei Monaten sind die Nerven halt auch sehr beansprucht. Aber an sich kommen wir damit zurecht, wir haben vorher auch schon Wochen gehabt wo er zu Hause gearbeitet hat. Aber ich glaube es wäre mal interessant, den Mann zu fragen – gespannt wie seine Perspektive ist.
Wie ist es, aktuell in Amerika zu leben?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube, das erlebt jeder hier gerade anders und liegt auch sehr daran, wo du lebst. Die Antwort ist wahrscheinlich anders, wenn du Leute in New York oder Michigan fragst oder hier in Seattle oder Portland.
Ich kann jetzt nur aus Oregon sprechen, wie schon oben erwähnt wir sind seit 9 Wochen jetzt auf Stay at Home Phase und gehen am Montag in Phase 1 von reopening.
Unser Gouverneur hat sehr schnell durchgegriffen, auch mit viel Widerstand. Sie hat Schulen und Kitas bis September geschlossen. Kitas sollen wohl langsam aufmachen, aber wie in Deutschland mit sehr hohe Beschränkungen.
Wir fühlen uns hier sicher, auch wenn wir natürlich die Fragen von unserer Familien und Freunde verstehen, die sich Sorgen machen. Gerade, wenn wir sehen was in den Medien berichtet wird.
small businesses
Oregon selber ist in der unteren Hälfte der Covid Fälle, es wird sehr darauf geachtet das man aufpasst. Da wir eine Foodie town sind, viel vom Tourismus leben und auch viele small businesses haben, ist es schon hat zu sehen, wie viele ihre Jobs verloren haben und das Sozialsystem nicht richtig greift. Wir haben in Oregon eine sehr starke Gemeinschaft zwischen den Small Biz Inhabern und es ist großartig zu sehen, wie sie sich gegenseitig unterstützen. Es ist aber auch eine sehr grosse Unsicherheit zu spüren und Freunde, die zu ihren Eltern zurückziehen, weil sie es finanziell nicht mehr schaffen und die Notbremse ziehen müssen, kennen wir auch.
Wir müssen sehen, was die nächsten Wochen bringen und hoffen, dass mehr finanzielle Hilfe bei kleinen und mittelständischen Unternehmen ankommt und das Familien ihre Kinder zu Summer Camps oder in die Kita bringen können. Denn das ist auch hier die grosse Frage, wie Familien ohne Kitas und Schule wieder zurück in den Beruf gehen können?!
Wir haben zusätzlich das Wahljahr, welches einiges erschwert. Man muss sehr vorsichtig sein, was man glaubt und welche Nachrichtenkanäle man schaut.
Was tut Dir im Moment gut?
Raus gehen, in die Natur. Ein geregelter Ablauf ist mir wichtig. Ich freue mich, wenn ich in die Badewanne gehen oder mit Freundinnen telefonieren kann. Ich verschicke gerade viele Postkarten und freue mich, wenn etwas zurückkommt. Auch über das gute Wetter freue ich mich gerade sehr – das macht es einfacher mit meinem kleinen Sohn.
Wenn mein Mann mir ein bisschen Zeit schenkt, ziehe ich mit meiner Kamera los. Auch das bringt mir Zufriedenheit und Freude.
Liebe Annika, herzlichen Dank für dieses spannende Interview und den Einblick in Euer Leben.
Ab September kann man das Loft von Annika in Portland wieder mieten.
Mehr über das Soulbase Magazin gibt es hier.
Herzliche Grüße
Denise
Wirklich interessant, wie es andere erleben! Und vor Annika ziehe ich wirklich den Hut! So viel Offenheit, Mut und kreativen Geist auszuwandern und mit Schicksalsschlägen umzugehen…sowas wünscht man sich für niemanden, umso schöner zu sehen, dass es ein Leben danach geht. In dieser Zeit helfen mir Gespräche mit meiner Schwester und engen Freunden extrem weiter. Zwischendurch wird es auch zwischen mir und meinem Mann lauter, aber meistens legt sich das wieder. Es ist einfach eine bedrückte Zeit!
Liebe Denise, die Momentaufnahme ist sehr berührend und einmalig – danke, dass du jeden Sonntag eine andere Dame hier „auf den Schirm bringst“ und dabei die Höhen und Tiefen des Lebens ganz sichtbar werden! Noch einen schönen Sonntag & Viele Grüße, Mara
Wow, Denise, deine Interviews finde ich generell super und augenöffnund, aber heute hatte ich doch Gänsehaut.
Ich bin beeindruckt, wie Annika ihr Schicksal schildert und mit wieviel Mut zu m Ausprobieren sie ihr Projekt USA gestartet haben und es jetzt leben.
Schön ist auch, wie sie ihre Sicht der Dinge schildert, gerade auch jetzt in diesem wundervollen Land zu leben.
Danke, dass ihr uns mitgenommen habt.
Viele Grüße
Nicole
Liebe Annika, liebe Denise,
ein tolles Porträt.
Besonders toll fand ich die Passage: „Die Interviews hier finde ich teilweise zu geschönt und ich wollte gerne zeigen, dass Du nicht unbedingt 26 tausend Follower haben musst, um Erfolg zu haben. Es ist ok, wenn Du an der Kasse sitzt und den Menschen ein Lächeln entgegenbringt, wenn sie einen miesen Tag hatten. Oder wenn Du eine Scheidung hattest und bei NULL anfangen musst.“
Ein sehr ehrliches Porträt, dass mir Annika sehr symphatisch macht.
Liebe Grüße
Sonja