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Momentaufnahme aus der Arbeitsagentur

20/04/2020

Momentaufnahme aus der Arbeitsagentur

Mich haben Geschichten anderer Menschen schon immer interessiert. Die echten Geschichten von Angesicht zu Angesicht erzählt. Ich will wissen, wie es den Menschen geht, was sie gerade fühlen. Welche Ängste sie haben, aber auch, welche Hoffnungen sie antreiben. So ist meine Idee zu „Momentaufnahme“ entstanden und seit dem Skype ich mit den verschiedensten Frauen.

Heute geht es in meiner Momentaufnahme um einen unerkannten systemrelevanten Beruf. Ich freue mich sehr über dieses Interview, denn genau das war mein Wunsch: Perspektiven zu öffnen und zu zeigen, was außerhalb unserer eigenen Blase noch so los ist.

Natalie ist 30 Jahre alt und lebt in der Pfalz. Sie schrieb mir über Instagram, dass während andere wegen Corona einen Gang herunterschalten, würde sie ihre Drehzahl erhöhen. Ich war neugierig und so haben wir uns zum Skypen verabredet.

Arbeitsagentur

Liebe Natalie,

jetzt bin ich neugierig! Was machst Du beruflich?

Ich warte immer gerne, bis ich die Leute von Angesicht zu Angesicht sehe, denn in der Regel reagieren Menschen mit sehr gemischten Gefühlen, wenn sie hören, was ich beruflich mache. Normalerweise, wenn nicht gerade Krise ist, berate ich die Geschäftsführung von Arbeitsagenturen und Jobcenter. Aktuell bedeutet Coronakrise Kurzarbeit, wir haben also viele Kurzarbeiteranträge und alle von unseren hunderttausend Mitarbeitern, die atmen und geradeaus gehen können, kümmern sich um das Kurzarbeitergeld.

Warum reagieren Menschen negativ, wenn sie von Deinem Beruf hören?

Das ist ein bisschen wie mit Ärzten – jeder hat so seine eigene Geschichte. In der Regel freut man sich nicht über seine Arbeitslosigkeit. Man hat also schon negative Gefühle und dann verbindet man die mit uns, den Mitarbeitern vom Arbeitsamt. Aber ich verstehe das total. Die Arbeitslosigkeit mit jemanden zu besprechen, den man nicht kennt, ist schon ziemlich doof.

Eigentlich habe ich Grundschullehramt studiert. Im ersten Semester habe ich an einem Projekt teilgenommen: Studienberatung von Studierende für Studierende. Das hat mir schon unglaublich viel Spaß gebracht. Nach dem Studium bin ich aus Bremen in die Pfalz gezogen. Der logische Schritt wäre gewesen, an einer Schule anzufangen – doch ich wollte viel lieber beraten und so bin ich bei der Arbeitsagentur gelandet.

Erst habe ich Arbeitssuchende beraten, dann Menschen, die eine Weiterbildung machen wollen und seit 1 1/2 Jahren berate ich die Geschäftsführung. Das ist noch einmal ein ganz anderes Feld. Macht aber auch Spaß, weil man viel bewegen kann.

Und jetzt gibt es Kurzarbeitergeld!

Genau. Am 16. März fing es an. Das war richtig krass. Um 8 Uhr macht die Hotline der Arbeitsagentur auf und da haben wir in der ersten Stunde eine Millionen Anrufe gehabt. Unsere Technik ist erst einmal in die Knie gegangen, weil sie überhaupt nicht dafür ausgerichtet ist. Und dann bekomme ich Gänsehaus, wenn ich das erzähle: Kollegen, die über Jahre hinweg ganz andere Dinge gemacht haben, haben sich nun innerhalb kürzester Zeit auf eine ganz neue Situation eingestellt. Ich finde es schade, dass das in den Medien gar nicht aufkommt. Millionen von Menschen bekommen jetzt Kurzarbeitergeld und niemand fragt sich: Wer kümmert sich da eigentlich drum? Wir sind bei 2 Wochen Bewilligungszeit – in der Zeit kann man keinen Reisepass beantragen. Ich merke einfach, dass wir ein richtig cooler Laden sind. Ich bin mega stolz, Teil dieses Teams zu sein.

Wir hatten sonst 50 – 60 Anträge pro Monat, jetzt sind wir innerhalb von 2 Wochen bei über 1/2 Millionen Anträge. Da sind also viele Menschen, die sich komplett neu aufgestellt haben, ganz viele neue Gesetze und Programme gelernt haben. Da bin ich wirklich stolz drauf.

Keiner macht mehr das, was er vorher gemacht hat.

Arbeitest Du jetzt mehr als vorher?

Wir können nicht alle gleichzeitig arbeiten, dann würde unser Programm zusammenbrechen. Deshalb arbeiten wir jetzt in Schicht, von 06 bis 13 und von 13 bis 20 Uhr. Wobei ich teilweise auch von zu Hause aus noch bis 22 Uhr arbeite. Karfreitag und Ostermontag habe ich auch gearbeitet. Bei uns wird gerade richtig reingehauen.

Die Menschen, mit denen ich telefoniere, haben wirklich alle große Angst um ihre Existenz. Da ist es mir immer ein wirklich großes Anliegen, Höflich aber immer mit einer Prise Fröhlichkeit mit den Menschen zu sprechen. Ich rufe die Menschen lieber kurz an, wenn ich sehe, dass ein Kreuz falsch oder zu viel gemacht wurde. Ich glaube, dass es wichtig ist, das ich nicht auch noch eine Grabesstimmung zu verbreiten. Mir ist es super wichtig, positiv für meinen Berufsstand einzustehen.

Habt Ihr den größten Ansturm hinter Euch?

Das Kurzarbeitergeld wird so beantragt, dass man erst einmal eine Anzeige stellt. „Hallo! Ich möchte gerne ab sofort Kurzarbeit anmelden.“

Daraufhin bekommt man eine Bewilligung und wenn die durch ist, beantragt man mit einem anderen Antrag jeden Monat das Kurzarbeitergeld, denn das wird rückwirkend gezahlt. Momentan haben wir nur Anzeigen auf dem Tisch liegen, für die wir die Bewilligungen schreiben.

Das bedeutet, wir werden exakt nochmal diese Welle haben, wenn die Leute anfangen, ihre Anträge zu stellen. Wir versuchen es gerade zu vereinfachen, aber erstmal werden wir bis Ende Juni dieses große Arbeitsvolumen haben.

Wie genießt Du im Moment Deinen Feierabend?

Meistens bin ich gegen 20:30 Uhr zu Hause. Ich laufe zu Fuß zur Arbeitsagentur. Ich könnte auch mit dem Fahrrad fahren, aber ich laufe absichtlich die 1,5 km zu Fuß, weil es unglaublich guttut. Sowohl Morgens das Hinlaufen um wach zu werden als auch Abends um herunterzukommen, um die Zahlen aus dem Kopf zu bekommen.

Ehrlich gesagt lese ich dann nur noch ein bisschen, weil ich keinen Bildschirm mehr sehen möchte. Einfach Ruhe, Tee trinken, lesen, entspannen.

Ich bin auch dazu übergegangen, dass ich nur noch Morgens und Abends bei  Tagesschau rein schaue und dann höre ich auf. Zu viel Nachrichten machen verrückt.

Momentaufnahme aus der Arbeitsagentur

Liebe Natalie,

herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch und die Momentaufnahme aus der Arbeitsagentur. Ich wünsche Dir, dass Du Deinen Optimismus behältst und gesund bleibst.

 

Natalie findet Ihr unter dem Namen sternzeichen_lichterkette bei Instagram.

Freitag habe ich eine weitere Frau für Euch, die ebenfalls ihre Drehzahl erhöht hat. Eine Intensivfachschwester erzählt ein bisschen aus ihrem aktuellen Alltag.

Die nächsten Gespräche, die ich führen werde, kommen dann aus dem Wald und aus Amerika. Es bleibt also spannend!

 

Viele liebe Grüße & bleibt gesund

Denise

 

 

  • Nicole 20/04/2020 at 9:49

    Liebe Denise,
    Danke, dass du uns Natalie vorstellst. Sie hat recht: Jeder hat so seine eigene Meinung. Allerdings sollte sie nach deinem Interview den Mitarbeiterin des Monats Titels bekommen. Ich finde es klasse, mit wieviel Optimismus und Freude sie ihren Job macht und auch ihre Kolleg*innen mit einbezieht.
    Ganz toll.
    Ich hoffe, dass ganz viele Menschen dieses Interview lesen.
    Habt beide einen guten Start in die Woche
    Nicole

  • Susanne Schmidt 20/04/2020 at 13:48

    Hallo Denise,
    Danke für den tollen und interessanten Beitrag von Natalie. Witzig ist, dass mein Mann, gerade ähnliches bezüglich Kurzarbeit erfährt. Er arbeitet in einer Steuerkanzlei und macht dort Lohnabrechnungen. Seit Wochen hängt er jetzt voll mit der Anlage und Abrechnung von Kurzarbeitergeldern in seinen abzurechneten Firmen drin. Keiner der Arbeitgeber hat so richtig den Durchblick und immer wieder Nachfragen. Viele, viele Überstunden sind schon aufgelaufen. Aber „wat mut dat mut“und so helfen Alle zusammen und wir halten durch! Heute Abend bekommt er Deinen Interview von Natalie zu lesen. Vielleicht hilft es 🙂
    LG Susanne

  • Lisa 21/04/2020 at 8:50

    Liebe Denise,

    danke, dass du uns Nathalie vorstellst und damit auch mal diese Seite zeigst, die Arbeit in den Verwaltungen, Förderinstituten und Arbeitsagenturen mit all den Menschen, die nun versuchen innerhalb von kurzer Zeit schnell und möglichst unbürokratisch finanzielle Hilfe zu leisten.

    Ich selbst bin in einer ähnlichen Situation wie Natalie, allerdings noch ein ganzes Stück dichter dran. Ich bin Wirtschaftsförderin in einer eh schon strukturschwachen, ländlich geprägten Region. Ich habe 250 Unternehmen, die ich betreue und normalerweise spreche ich mit ihnen über Fachkräftegewinnung und Fördermittel für Investitionen. Nun bekomme ich ganz andere Anrufe und es geht um teilweise Existenzen. Durch die Ländlichkeit und da ich auch von hier stamme, kenne ich sehr viele meiner Unternehmer auch sehr gut, teilweise freundschaftlich. Wir haben ein enges Verhältnis, was sich jetzt einerseits auszahlt, da wir sehr viel Kontakt haben, andererseits mich aber auch belastet, da ich mit jedem Gespräch nicht den Unternehmer sehe, sondern den Menschen. Der Tourismus, der in unserer Region als Aktivtourismus eine große Rolle spielt, ist auf 0 runtergefahren. Der Handel durfte gestern wieder öffnen, davor haben wir versucht gemeinsam online zumindest ein Gutscheinportal aufzubauen, damit es Umsätze gibt, um laufende Zahlungen zumindest teilweise begleichen zu können. Bei uns gibt es keine Handelsketten, es sind alles inhabergeführte kleine Läden. Ich habe Selbständige an Spargelbauern vermittelt…und ich selbst sitze dazwischen und weiß, mein Geld kommt, meine Arbeit ist auch nach der Krise noch da und an sich sind die Einschränkungen, die ich gerade erfahre, reine Luxusprobleme.

    Ich hoffe daher, dass Menschen wie Natalie, die jetzt an vorderster Bürofront für all jene da sind, die die Corona-Krise finanziell stark trifft, auch gesehen werden und deshalb danke ich dir, dass du Natalie in deiner Momentaufnahme vorstellst.

  • Nicole Kirchdorfer 21/04/2020 at 9:23

    Ein wichtiger Beitrag!
    Ich persönlich musste für meine Mitarbeiter auch Kurzarbeit anmelden und habe selbst mehr als genug zu tun….
    Der sehr negative impact von corona, obwohl ich dem Virus auch viel positives abgewinnen kann, denn die erzwungene Entschleunigung war meines Erachtens dringend notwendig. Für Die Welt und mich persönlich.

    Lg Nicole

  • Jan V. 21/04/2020 at 19:53

    Vielen Dank für den Bericht. Ich arbeite im Jobcenter in der Leistungserbringung. Die Umstände bei uns sind die gleichen. Es ist schön einmal von der Gesellschaft gesehen zu werden.