Momentaufnahme
Zweiter Lockdown in Rheda-Wiedenbrück – wie viel Kraft ist noch über?
Mich haben die verschiedenen Geschichten von Menschen schon immer interessiert. Die echten Geschichten von Angesicht zu Angesicht erzählt. Ich will wissen, wie es den Menschen geht, was sie gerade fühlen. Welche Ängste sie haben, aber auch, welche Hoffnungen sie antreiben. So ist meine Idee zu „Momentaufnahme“ entstanden und seit dem skype ich mit den verschiedensten Menschen.
Nicole ist verheiratet und eine 14-jährige Tochter. Sie lebt und arbeitet im aktuellen Corona Hotspot Rheda-Wiedenbrück und wir haben Montag über die aktuelle Lage gesprochen – kurz bevor der Lockdown Light dann wirklich kam.
Liebe Nicole, wie geht es Dir gerade?
Mir geht es … durchwachsen … gut bis schlecht …
Weil Corona hier in Rheda-Wiedenbrück noch viel allgegenwärtiger ist als sonst in der Republik, weil eil es im Moment kein anderes Thema gibt und weil es einfach in alle Lebensbereiche reingeht.
Ich bin Einzelhändlerin und habe am 01. Juli 20-jähriges Jubiläum, was ich jetzt natürlich nicht groß feiern werde. 2015 habe ich zu meinem Einzelhandelsgeschäft Neue Zeiten noch einen Herzenswunsch erfüllt und eine Kaffeerösterei eröffnet.
Also hast Du einige harte Wochen hinter Dir?
Genau, ich hatte 5 Wochen geschlossen. Fairerweise muss ich sagen, dass ich nicht komplett geschlossen hatte. Ich habe noch einen Onlineshop. Aber das hat nichts mit dem Geschäft zu tun, was man sonst so hat. Das spielt dann auch in Bereiche rein, an die man erst mal gar nicht denkt. Meine Großkunden zum Beispiel ordern nur die Hälfte an Kaffee fürs Büro, denn der Rest ist ja im Homeoffice.
Kaffeebohnen bekommst Du trotzdem geliefert?
Das lief reibungslos. Kaffee wird meist in Container verschickt und die waren schon auf dem Wasser. Ich habe auch das große Glück, dass ich eine sehr hochwertige Qualität kaufe. Im preiswerteren Segment kann es schon schwieriger sein.
Bis auf Brasilien, wo es auch auf den Kaffeefarmen schwierig ist und es an den Häfen zum Stillstand kommt, sehen viele Länder zu, dass sie den Kaffeehandel aufrechterhalten. Brasilien hat ja noch ganz andere Probleme, aufgrund der politischen Führung. Aber die anderen Länder – gerade Südamerika – versuchen es schon, dass diese Einnahmequelle nicht versiegt.
Und jetzt dachtest Du, es läuft wieder …
Es lief auch wieder. Die Kunden haben sich gefreut, als ich wieder öffnen durfte. Das war natürlich Balsam für die Seele, eine schöne Wertschätzung von Seiten der Kunden.
Am 17. Juni kam dann die Schreckensmeldung mit den vielen Infizierten bei Tönnies und die Sorge um den nächsten Lockdown. Mich hat es kalt erwischt. Ich bin nicht vom WORST CASE ausgegangen und dachte eigentlich, sie hätten von Westfleisch oder wie auch immer gelernt.
Im Moment sind nur die Kindergärten und Schulen zu, aber wir warten jeden Tag auf die Veröffentlichung des Gesundheitsamtes.
Eine schlechte Nachricht verkauft sich immer besser als eine gute, aus diesem Grund schaue ich nur auf den öffentlichen Seiten. Die offiziellen Seiten funktionieren als Nachrichtenquelle sehr gut, auch der Bürgermeister informiert über seine Kanäle. Mir reicht das als Information.
Was machst Du zum Feierabend, damit es Dir gut geht?
Der Feierabend ist gar nicht mein Problem. Ich bin ein Morgenmensch und erledige vieles schon zu Beginn des Tages. Da merke ich, daSs ich nicht in meiner Mitte bin. Da schlägt das Pendel. Mir können 100 Leute sagen, Yoga würde mich total entspannen, aber wenn ich nicht in die Ruhe komme, komm ich eben nicht in die Ruhe. Also gehe ich laufen und schwimmen. Dann bin ich aber auch Abends so groggy, dass ich nach dem Abendessen relativ gut zur Ruhe komme.
Aber es kann durchaus sein, dass ich um 4 Uhr wach im Bett sitze und dann überlege. Aber es nutzt ja nichts, ich kann ja nicht Wunschdenken. Ich kann die Situation momentan nicht beeinflussen. Oder: nicht mehr beeinflussen, als durch die allgemeinen Hygienemaßnahmen, die wir ja sowieso schon eingeführt haben.
Es ist natürlich schwer, die gute Laune und den Optimismus beizubehalten.
Was ich überhaupt nicht mag, sind die vielen Spekulationen. Ein Kunde sagte: „Wenn jetzt die Wirtschaft wieder runterfährt, dann trifft es auch Firmen wie Miele und Nobilia, Bertelsmann und Claas – dann bricht die Region zusammen.“
Das ist mir auch klar. Aber da kann ich mir Gedanken drum machen, wenn es so weit ist. Und ob sie dann wirklich zusammen bricht – WHO KNOWS?
Vor 14 Tagen haben wir hier eine Kunstausstellung eröffnet. Die Leute haben sich so gefreut … endlich mal wieder Kunst, endlich wieder was los auf der Straße. Aber gut, wenn wir wieder runterfahren, müssen wir eben wieder anfangen. Nutzt ja alles nichts.
Sich jetzt mit der Mistgabel vor Tönnies zu stellen bringt ja auch nicht viel …
Das bringt vielleicht was für den Moment, damit ich mich abreagieren kann. Das kann vielleicht sein. Aber grundsätzlich kann ich es nicht nachvollziehen, wenn das jemand tut. Meins wäre es nicht. Ich denke, ein Herr Tönnies weiß auch so, dass dies gerade WORST CASE für ihn ist.
Er mag reich sein ohne Ende, aber er ist eben auch Bürger einer Kleinstadt und ich möchte nicht in seiner Haut stecken und mich irgendwann wieder auf dem Schützenfest blicken lassen müssen. Da braucht der mich nicht mit der Mistgabel vor der Tür. Er wird auch so genug haben, worüber er in einer stillen Stunde nachdenken kann.
Hast Du ein kluges Lebensmotto, was Dich gerade über Wasser hält? Oder eine Lebensdevise?
Es gibt immer mal wieder Zitate, die mich begleiten, aber eher so temporär. Doch so grundsätzlich – mein Mann sagt immer, ich bin da ein bisschen fatalistisch unterwegs, aber ich sage immer: „Geht eine Tür zu, geht eine andere wieder auf!“
Trotzdem möchte ich eben auch das 21. Jahr mit meinem Geschäft erleben. Aber immerhin steht bald unser neuer Onlineshop.
Der Onlineshop hat Dich in den letzten Monaten sicher gerettet?
Der Onlineshop hat mich gerettet, ja. Wobei, was mich eigentlich gerettet hat war, dass ich schon immer in den sozialen Medien unterwegs war und ich das nicht nur als Werbeplattform gesehen habe, sondern wirklich die Menschen mitgenommen habe.
Während unseres Gesprächs hat mir Nicole die Einkaufsstraße vor ihrem Geschäft gezeigt. An einem Montagnachmittag, gegen 16 Uhr war hier gähnende Leere, wie ausgestorben, bei schönstem Wetter – normalerweise würden die Menschen zu der Zeit Eis schleckend durch die Straßen ziehen und die letzten Sachen für die bevorstehenden Sommerferien kaufen. Eine gespenstische Leere. Obwohl es bis dahin keinen offiziellen Lockdown gab, fühlte es sich dennoch schon so an.
Rheda-Wiedenbrück als Sperrzone
Ich hab schon viele Nachrichten von Kunden bekommen, für die ich etwas zurückgestellt habe, die sich jetzt aber nicht trauen, nach Rheda-Wiedenbrück zu kommen. Das ist ein wirklich komisches Gefühl.
Aber ich denke (und hoffe), wenn sie es irgendwie hinbekommen, dann wird es keinen Lockdown geben. Wenn sie Ostwestfalen schließen, dann schließen sie ganz NRW denn bei uns in Ostwestfalen wird das Geld von NRW verdient. Das liegt einfach an der Konzentration der eben genannten Firmen. Ein Lockdown kann sich das Land nicht leisten.
Natürlich ist es beängstigend. Bei uns steht 3 x am Tag der Mannschaftswagen der Polizei vor der Tür und dann schwärmen sie aus … Es ist eine beängstigende Situation und es macht was mit Dir. Egal wie alt Du bist.
Wenn Du einen Wunsch frei hättest, was wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass wir alle ein bisschen zur Ruhe kommen. Dass wir uns alle erst mal mit uns selber beschäftigen, bevor wir uns mit anderen beschäftigen. Damit wären wir alle ein Stück weiter.
Liebe Nicole, ich wünsche Dir starke Nerven für die bevorstehende Zeit. Danke für diese Momentaufnahme.
Alles Liebe
Denise
Liebe Denise,
wow, dieses Interview hat mich sehr tief berührt. Oft machen wir uns gar nicht deutlich, wie viel Energie gerade so tolle, kleinere Geschäfte wie Nicole benörigen. Aber sie ist sehr bei sich und das gefällt mir. ihre Einstellung ist richtig, um so etwas durchzustehen. Auch wenn nur wenig Kraft übrig ist.
Ich wünsche Nicole alles Gute und danke dir für deine schöne Interview Reihe.
Lieben Gruß
Nicole