Dank Mia Gatow habe ich ein neues Lieblingswort:
EntrümpelungsEkstase
Die Autorin ist gerade in aller Munde, weil sie das Buch Rausch & Klarheit geschrieben hat und ich mag ihren Schreibstil sehr. Kurz vor Ende des Buches kam ein Kapitel mit dem Namen „Maximal minimal“ und während ich die ersten 200 Seiten des Buches nur als Zuschauerin, nicht aber als Betroffene gelesen habe, hatte sie bei diesem besagten Absatz meine maximale Aufmerksamkeit.
Im ersten Frühsommer ihrer Nüchternheit ist sie auf die zwei Amerikaner von The Minimalist gestoßen.
„Beide Männer sind mittelalt, hetero und weiß und haben ihren Weg in die Bedürfnislosigkeit mit fünfstelligen Monatsgehältern geebnet. Ihre Genügsamkeit ist also durch Immobilien, Aktienfonds und das boomende Minimalismus-business weich gepolstert. Doch solche Feinheiten sind mir jetzt egal. Ich bin dabei.
Nach den Regeln des 30-Tage-Minimalismus-Spiels muss ich am ersten Tag ein Besitztum aus meinem Haushalt entfernen, am zweiten Tag zwei, am dritten Tag drei und so weiter. Vierhunderfünfundechzig Sachen sollen am Ende des Monats entsorgt, verschenkt oder verkauft sein. Es fällt mir absolut nicht schwer. Ich bin in einer Entrümpelungsekstase.
Ich schmeiße Sachen weg, als wäre ich gestorben und müsste meine eigene Wohnungsauflösung organisieren.
Alles muss raus. Eingetrocknete Acrylfarbe und Nagellacke, alte Lippenstifte, Lidschatten und Wimperntusche, ausgeleierte Haargummis, zehn Jahre alte Akten, zentnerweise Modemagazine, Bücher, die ich nur einmal gelesen habe, Klamotten, die ich nie trage, einzelne Socken, Postkarten von Leuten, die ich nicht mehr kenne, Bettwäsche, die mir eigentlich nicht gefällt, praktische, aber hässliche Küchenutensilien, Knäule aus Kabeln mit vergessenen Funktionen, Kleidung, die dazu gemacht ist, Männern zu gefallen, aber drückt, scheuert und mich einschränkt. Kleidung, die ich für die Person gekauft habe, die ich früher gern gewesen wäre, aber nie war und jetzt auch nicht mehr sein will. Gegenstände, die ich doppelt besitze, weil ich vergessen habe, dass ich sie schon mal gekauft habe, alles, was ich seit Jahren plane zu reparieren, zu lesen, zu lernen oder zu benutzen, aber nie repariert, lese, lerne oder benutze.
Ich will, dass alles in meinem Leben funktional, leicht, effizient und transparent ist, rein wie mein Geist, klar wie Wasser.
Mein Aufräumen nimmt absurde Züge an. Ich entsorge farbige Tassen, weil ich meinen schwarzen Kaffee nur noch aus weißen Tassen trinken will. Ich entsorge all meine alten Messer, weil ich nur noch Klingen akzeptiere, die so scharf sind, dass man eine Hirn-OP mit ihnen durchführen könnte. Ich entsorge all meine farbige Bettwäsche, weil ich nur noch weiße dulde, in der ich morgens erwache wie ein frisch erblühendes Schneeglöckchen. Ich trage nur noch einfach geschnittene Pullover aus Seide, Merinowolle oder Kaschmir in monochromen Farbe, die ich in stundenlangen Streifzügen durch Second-Hand-Shops erbeute, weil ich ausschließlich die exquisitesten Materialien auf meiner gut durchbluteten, zarten, nüchternen Haut dulde. Ich folge Capsule-Wardrobe-Blogs und schaue mir Dutzende YouTube-Videos über den angeblich klassischen französischen Stil an, der immer die gleichen zehn uralten Stylingregeln propagiert ….. das Ausmisten von Wohnung und Geist ist ein typisches Symptom der frühen Nüchternheit. Baby-sober-leute entrümpeln, detoxen und fasten so exzessiv, wie sie früher getrunken haben. Nie hat sich Verzicht so gut angefühlt. Du erlebst das erste Mal in deinem Leben, dass Du einen Rausch erzeugen kannst, und dem die etwas nicht tust, nicht konsumierst, nicht besitzt, indem du den Raum, der früher vollgemüllt war, frei lässt. Du holst dir einen Kick beim neinsagen, also wird das Neinsagen deine Lieblingsbeschäftigung. Du sagst Nein, als wäre es dein Job: Nein danke, nicht für mich, nicht heute, ich will nicht, ich bin raus – nein ist der heißeste Dirty Talk.
Bäääääm!
Ich habe selten etwas so Rasantes und Kluges gelesen! Das absolut wichtigste in ein Kapitel gepackt. Mich hat es vollkommen begeistert (auch ohne ihre Vergangenheit zu haben). Vielleicht inspiriert es auch Dich? Der Januar bietet sich hervorragend dazu an, in EntrümpelungsEkstase zu geraten!
In diesem Sinne
ordentliche Grüße
Denise
6 Kommentare
Liebe Denise, darauf habe ich gewartet. Das Buch hole ich mir oder noch besser nur der Artikel wird ohne das Buch sofort umgesetzt. Jetzt überlege ich mir erstmal was mir wichtig ist und was ich will, und nicht was andere möchten. Ich habe leider immer alles für Andere oder für … schlechte Zeiten aufgehoben. In der Corona Zeit habe ich aber schon gemerkt, daß so etwas absolut nicht nötig ist. Es geht immer irgendwie weiter.
Liebe Grüße von Elke
Den Beitrag finde ich gut, nur würde es mir am Anfang glaube schwer fallen, nur 1 Sache auszusortieren, und dann nur 2 … Wenn ich entrümpele, dann nehme ich mir immer gleichen ein ganzes Fach oder Schrank vor und haue alles raus, was ich nicht mehr brauche. Aber es stimmt schon, dass setzt dann so einen Rausch frei, dass man am liebsten mit dem nächsten Schrank oder Fach weiter machen möchte, bis man sich wieder besser fühlt. Funktioniert auch immer super, wenn man gerade gereizt ist und schlechte Laune hat! Da schafft man dann richtig viel 😉
Am Anfang kann so ein Minimalisierungs-Rausch durchaus helfen, in die Gänge zu kommen. Und wer dafür Styling-Regeln benötigt: Na gut, soll er oder sie. Mich hat Styling nie interessiert.
Irgendwann ist aber auch dieser Minimalismus-Rausch vorbei und es beginnt der Alltag. Ich bin längst dort angekommen. Und erst da finde ich, wird es so richtig interessant. Was bleibt nach diesem Rausch? Warum lebe ich so? Was ist mir wirklich wichtig? Der Blick fürs Wesentliche schärft sich, zumindestens dann, wenn man den Rausch als erste Motivation nutzt und dann einfach mal dran bleibt an diesem Lebensstil.
Oh ja, im Januar geht’s für mich auch wieder los 🙂
Für mich hat am besten die „30 Tage 10 Dinge“-Challenge funktioniert – und auch da habe ich teilweise auf Vorrat jeweils ein Foto von 10 ausgemisteten Dingen gemacht für die Tage, an denen ich keine Zeit hatte…
Zum Schluss war ich dann 300 Dinge los und das war ganz wunderbar – daher mach ich das jetzt wieder 🙂
Liebe Denise,
der Text zur Entrümpelungsekstase ist Klasse, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich am Ende Vierhundertfünfundsechzig Dinge aus meinem Haushalt entfernen soll, dann wird mir etwas anders.
Ich glaube, dass ich mich zum Schluss von Dingen trennen würde, die mir doch lieb und wert sind und das wäre (für mich) nicht wirklich gut. Trotzdem ist es eine nachdenklich machende, tolle Idee.
Aber was ich Dir eigentlich schreiben möchte, ist, dass Dein neues Profilbild unglaublich gelungen ist.
Du kommst darauf soooo sympathisch herüber (bist Du ja auch!) und Deine Beiträge sind immer klar und sinnorientiert. Es tut mir gut, Deinen Ideen zu folgen und Dein Mut, neue Wege zu gehen, ist beachtlich.
Was mir jedoch Sorgen macht, ist Deine momentane gesundheitliche Situation und ich wünsche Dir sehr, dass Du ganz bald wieder schmerzfrei bist und das Leben voll genießen kannst.
Für die bevorstehende Prüfung drücke Dir fest die Daumen. Toi, toi, toi!
Ganz liebe Grüße, Martina
Liebe Denise, danke fürs Teilen und die Inspiration. Ich dachte so für mich, auch mal ne coole Idee für einen Adventskalender 😉 also warte ich eher nicht bis Januar. Viele Grüße, Christiane